Verlag 28 Eichen


 

Es ist möglich, sehr leicht möglich, daß man eines Tages unter ein Auto oder die Elektrische kommt, oder daß einem der Propeller eines Luftschiffes oder ein Geraniumtopf aus der dritten Etage auf den Kopf fällt, oder daß man von einer Hutnadel aufgespießt wird oder sich über eine Dame im Hosenrock kaputtlacht oder auf irgendeine andere Weise einen plötzlichen Tod findet. Man kann nie wissen. Und es wäre wirklich ein Verlust für die medizinische Wissenschaft, wenn mein Fall unbe­kannt bliebe. Darum halte ich es als fanatischer Arbeiter an dem großen Werk der menschlichen Erkenntnis und Aufklärung für meine Pflicht, meinen Fall in Nachstehendem niederzulegen. Auf Anfragen von Ärzten wegen einer einge­henden Untersuchung gebe ich keine Antwort. Ich lasse mich nicht untersuchen, ich bin nämlich wahnsinnig kitzlig. –
 

Hermann Harry Schmitz, 1880 – 1913

 

 

Hermann Harry Schmitz: Der Säugling und andere Tragikomödien
Satirische Kurzgeschichten
Herausgegeben von Olaf R. Spittel
Verlag 28 Eichen, Barnstorf 2004. 256 S. 19,50 €. Format 12 x 19. 278 g. Softcover
ISBN: 978-3-9809387-1-6

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Inhalt

Was so in der Familie vor sich geht
Der Säugling
Die Taufe
Die vorzügliche Kaffeemaschine
O Gott, bei Benders ist Hausputz!
Was Tante Gottmeih Schlüngel in der Stadt passierte
Der Einbruch
Onkel Willibald will baden
Das verliehene Buch

Von öffentlichen Dingen und so
Die Promenade
Der überaus vornehme Friseur
Von Männern, die an Schaltern sitzen
Die Bahnhofsmission
Die geteerte Straße

Wenn man so reist
Als ich gen Italien fuhr
Kennen Sie das Land, wo die Zitronen blühen?
Im Riviera Splendid Palace
Ventimiglia – Ventimiglia oder Haben Sie nichts zu verzollen?
Herbsttage am Rhein
Wie es kompliziert war, bis ich in die Sommerfrische kam
Was mir an der Table d’hôte in der Sommerfrische passierte

Wenn man bresthaft ist
Von meiner Lunge
Im Sanatorium
Der Blinddarm – ein Fluch

 

Rezension von Irene Weiser
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin (Quelle)

 

Infernalische Katastrophen, erzählt beim Sonntagskaffee

Man will sich unwillkürlich nochmal versichern, nachdem man die erste Erzählung gelesen hat, aber es stimmt schon: Beim Autor handelt sich's nicht um einen Briten in der skurrilen Tradition etwa eines Saki, sondern um einen Deutschen aus dem wilhelminischen Kaiserreich, auch noch aus der preußischen Rheinprovinz. Aber Hermann Harry Schmitz passt in dieses Umfeld hinein wie ein Pinguin in den Hühnerhof. Allerdings ist Schmitz ein schreibender Pinguin, vor dessen eigenwilligem Humor keine Henn..., pardon, kein wilhelminisches Requisit sicher ist: Kinder, Kirche, Küche... oder auch Familie, Reinlichkeit, Pflichttreue, Bildungsgut auf der Kredenz, Sittenstrenge... Man möchte es für einen Zufall halten, dass der Kaiser nicht persönlich vorkommt; seine Welt wird jedenfalls nach Strich und Faden auseinandergenommen.

Ganz harmlos beginnen diese tragikomischen Geschichten im wilhelminischen Bürgertum, mit durchaus respektablen Anlässen: Mit einer Kindstaufe oder der Anschaffung einer Badewanne, mit generalstabsmäßig geplantem Frühjahrsputz, mit der umsichtigen Vorsorge gegen verdächtige Einbrüche in der Nachbarschaft. Oder auch mit einer Bildungsreise in ein bemerkenswert winterliches Italien. Aber dann laufen diese Geschichten binnen weniger Sätze nach allen Regeln der Kunst aus dem Ruder: Mal ist der Urknall eine enigmatische Gebrauchsanleitung für Vaters Geburtstagsgeschenk, mal der Standesdünkel (Was, diese vermaldeiten Nachbarn werden beraubt? Als ob es "bei uns" nicht viel Besseres zu holen wäre! Eine Schmach, eine Beleidigung!). Und dann nimmt die Katastrophe ihren Lauf, dass es eine Art hat. Richtige Katastrophen sind das, in denen schonmal die Hausfrau auf Nimmerwiedersehen im monströsen Staubsauger verschwindet, wo lieben gebrechlichen alten Tantchen auch die Flucht auf den Dachgiebel bestenfalls kleinen Aufschub gewährt, wo die lästige Verwandtschaft, nachdem sie mit all ihrem Anspruch einer Theateraufführung (ein gewagtes modernes Stück!) erst so richtig den Pfeffer gegeben hat, im ersten Parkett mumifiziert...
Zwar enthält dieser Band auch jede Menge "Pleiten, Pech und Pannen"-Stories der Art, wie sie etwa Mark Twain meisterlich beherrscht (Schmitz beherrscht dieses Genre allerdings auch nicht schlecht), aber die besten Geschichten sind hier eindeutig jene, in denen sich aus alltäglichen Situationen absurde Grotesken entwickeln, und in denen Unerklärbares, nicht mit dem gutbürgerlichen Verstand Fassbares in den Alltag der Protagonisten hereinschwappt und regelmäßig für unerwartete Schlusspointen sorgt. Und Schmitz ist ein Meister der Pointe; den Punkt, an dem seine Handlungen vom Plausiblen ins Aberwitzige umkippen, bereitet er so unbemerkt vor, dass man im entscheidenden Moment bestimmt nicht auf dem Quivive ist...
Ja, man liest richtig: Das sind fürwahr tragische Ereignisse, da kommt fast immer jemand gewaltsam zu Tode, wenn es nicht gleich komplett die weitverzweigte Sippe erwischt, und garantiert feiern diese Erzählungen wahre Orgien der Zerstörung. Das alles in der guten alten Zeit, als derartige Katastrophen noch nicht einmal als Schreckensvision durchgingen.

In Schmitz'scher Diktion sind diese in der Wolle gefärbten Menschheitskatastrophen ganz einfach komisch, wie vorweggenommene Slapstick-Anarchie. Man fällt in den eigenen Säbel? Vater erschießt versehentlich die stocktaube Tante? Der erste Friseursalon der Stadt verwandelt sich in ein Inferno? Und wenn schon! Derlei kommt halt vor... Das eigentlich Witzige dieser Stories ist, dass sie im Plauderton daherkommen, ganz unschuldig, als würden sie sonntagmittags am Kaffeetisch erzählt.

Es werden Einblicke gewährt in Abgründe, die sonst gut verdeckt bleiben. Und egal wie gruslig das Ganze eigentlich wäre -- bei Schmitz ist das komisch. Ganz eiligen Lesern empfehle ich als Appetithappen die Erzählung "Der überaus vornehme Friseur": Sie beginnt einer herrlich fiesen Satire auf die bessere Gesellschaft, incl. vieler scharfer Beobachtungen und treffsicheren Sticheleien gegen die kleinstädtische Ständeordnung, in der sich die wilhelminische Rangordnung haargenau widerspiegelt. Das wird mit genüsslicher Bosheit ausgebreitet, wie es feiner nicht vorstellbar ist. Dabei hat man sich doch allerhand vorzustellen, denn vor dem Rasiertisch sind alle gleich: "Goethe halb eingeseift, den Kopf krampfhaft zurückgebeugt, die edle Nase in den Händen des Friseurgehilfen, bittend, man möge ihn nicht gegen den Strich rasieren." Ähnlich blasphemische Phantasie müssen sich auch die Herren Schleiermacher, Kant, Rückert, gar Turnvater Jahn gefallen lassen. Aber dann geht's erst los, denn der gottgleiche "erste Friseur der Stadt" erhebt sich über seine eigene Ordnung und entfesselt infernalische Kräfte.

"Der Säugling und andere Tragikomödien" -- das ist nichts Geringeres als eine Neuauflage eines kaum mehr bekannten Autors, den (wieder) zu entdecken sich unbedingt lohnt... Gerade 33 Jahre alt war Hermann Harry Schmitz, als er sich 1913 das Leben nahm. Hinterlassen hat er zahlreiche Kurzgeschichten und Skizzen, die erfreulich oft mit wüsten Katastrophen der etwas anderen Art aufwarten. Einen Teil davon kann man in dieser Neuauflage nachlesen, texttreu nach der ersten Auflage 1911 und schon vor dem Aufschlagen überzeugend: Diese gewitzte Maus im 1:1-Maßstab auf dem Umschlag scheint nur drauf zu warten, wohlgefügte Ordnungen durch dezentes Anknabbern apokalypsengleich aus dem Ruder laufen zu lassen.

 

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